1984 Bhopal unfassbar für einen Augenzeugen

 

25 Jahre danach stichpunktartig das Wichtigste vom größten Chemieunfall der Welt ohne jegliche toxikologische Hilfe:

 

Ursachen:

·        Reinigungsversuch des Tanks in Abwesenheit von Fachpersonal

·        Ignoranz, denn Wasser darf nie zu Methylisocyanat

·        Flucht des Täters als er den Schaden bemerkte

·        Alarmsirene lockte Tausende in den Tod zum Unfallort

·        kein Alarmplan

·        kein Expositionsstopp, keine Dekontamination, kein Lungengegengift, kein Beatmungsplatz, keine Hilfe angefordert, sich durchwursteln

·        fremde Hilfe bedeutet Ohnmacht zugeben, daher unmöglich

 

Verlauf:

-         Prof. Chandra, Rechtsmediziner und Toxikologe bat mich telefonisch um Hilfe, das Auswärtige Amt organisierte die Hilfe rasch und unbürokratisch

-         der deutsche Botschafter in Delhi, Dr. Vogler, half rasch und außerordentlich tatkräftig

-         die indischen Behörden taten alles, um eine effiziente Hilfe für die Opfer zu verhindern

-         das Gerücht, alles sei ein Riesen-Chemiewaffenversuch der Amerikaner, blieb unbestätigt, aber erklärte die Untätigkeit der Offiziellen

-         nach der Ankunft in Delhi währte eine stundenlange wertlose Diskussion im Gesundheitsministerium mit  den Resumée, Indien bräuchte keine ausländische Hilfe

-         als „persona non grata“ machte ich dann im gepanzerten Mercedes des Botschafters einen Ausflug in der Altstadt von Delhi, beobachtete einen Zahn ziehenden Hindu am Straßenrand und wurde dann per Funk aufgefordert, sofort nach Bhopal weiter zu reisen, flog mit dem nächsten Flugzeug

-         während ich am Ankunftstag vergeblich in der Warteschlange nach Abgabe meiner 10 Erste-Hilfe-Koffer gewartet hatte und wegen einer japanischen Film-Crew an Land bleiben musste, wurde ich dann von 2 Geheimdienstoffizieren begleitet und gut betreut

-         Am Flugplatz im Bhopal empfing mich Prof. Chandra, zeigte mir Pläne der Stadt mit 40 000 Opferzahlen und seine  Sektionsbefunde. Er klärte mich über die Informationstaktik mit Pressezensur der indischen Behörden auf: anfangs wird stets eine Leichenzahl mit höchstens ein Zehntel festgelegt, bei der man dann bis zum Ende in 10 Jahren festhält: 1450. Chandra hatte 40.000 Leichen gezählt und auf riesigen Scheiterhaufen verbrennen lassen. Er führte mich durch die Keller mit über 100 teilbedeckten Leichen, oft Frauen mit ihren toten Säuglinge an der Seite. Alle gespenstisch blau durch das Lungenödem durch Methylisocyanat, ein zehntel hellrot wie durch Kohlenmonoxid (Blausäure!)

-         An 12 Leichen führte ich sofort nach Eröffnung einen Schnelltest von Träger mit Methylisocyanat und Blausäure in Salzsäure mit den Prüfröhrchen für Blausäure/ Methylisocyanat durch. Alle hatten Methylisocyanat und Blausäure positiv, 2 extrem hohe, tödliche Blausäure-Konzentrationen.

-         Prof. Chandra fuhr mit mir in die Fabrik und in die Areale mit den meisten Toten, zu den anderen Krankenhäusern, zeigte die glimmenden Scheiterhaufen für die Tausenden

-         Vom Botschafter erhielt ich zwei Dolmetscherinnen, zwei deutsche Lehrerinnen, eine für Englisch, die andere für Hindu. Dies ermöglichte eine prima Anamnese und Hören aller Bemerkungen bei den Diskussionen.

 

Hilfreich waren:

1)     Der Laborchef des Krankenhauses, in dem ich vor dem Abflug einen lange geplanten Vortrag hielt, bereitete in 30 kleinen Glasflaschen mit zwei Schläuchchen am Stöpsel und Inhalt 1 molarer Salzsäure vor. An einer Seite wurden 2 ml Blut eingefüllt, an der anderen das Prüfröhrchen der Gifte mit der Saugpumpe aufgesetzt, geschüttelt, 10 Hübe. Quantitativ konnte man die Giftmenge im Blut ablesen (Schnelltest). Ein geeichtes Muster hatte er vervielfältigt.

2)     Der deutsche Botschafter hat sich erfahren und väterlich um seinen Schützling gekümmert. Er schrieb das Empfehlungsschreiben: „To whom it may concern“, das jede Hilfsbereitschaft initiierte. Ohne ihn wäre das riskante und angefeindete Unternehmen sicher gescheitert. Seine Warmherzigkeit war einmalig. Seine Kommentare – auch in den Besprechungen – zeugten von unglaublicher Erfahrung und Engagement. Er war das überragende Erlebnis dieser fürchterlichen Zeit, er gab ungeheuer viel Kraft. Sein Ideenreichtum war beeindruckend. 2 bewaffnete BND-Agenten begleiteten und beruhigten mich – ebenso wie die beiden Dolmetscherinnen – auf allen lebensbedrohlichen Wegen – insbesondere nach der ausgesprochenen Morddrohung. Kurz vorher war ja Indira Ghandi ebenfalls von gedungenen Mördern für 5 Rupien ermordet worden.

 

Die sinnvolle Hilfe torpedierte:

1)     Der indische Botschafter in Frankfurt, bei dem ich mein Visum abholen musste mit einem vergifteten Krabben-Cocktail, der im Flugzeug heftigste Durchfälle ausgelöst hatte. Ein Kohlebecher hat alles kuriert, Cola den Magen-Darm beruhigt.

2)     Der indische Gesundheitsminister, der keinen Toxikologen in Bhopal wollte und erst nach Stunden überstimmt war.

3)     Der Vertreter der Unglücksfirma, der ein Zimmer im Uni-Krankenhaus hatte und gegen eine hohe Summe mein sofortiges Abreisen – vergeblich – wollte.

4)     Viele US-Anwälte, die von den schwerst Kranken auf der Straße eine Unterschrift verlangten, sonst „bekämen sie keine Behandlung“, obwohl niemand ihr Englisch verstand. Sie erwiderten mir: keine Beweise sind besser, weil dann nicht um Details gestritten wird.

-         Von keinem Erstvergifteten gab es Personalien, von den Leichen ebenso wenig, nicht einmal für die Zahlen interessierte sich jemand: wo keine Dokumentation, da keinerlei Konsequenzen!

-         Nach der Freigabe unserer umfangreichen Hilfslieferungen an Gegengiften (Cortison-Spray, Natriumthiosulfat, Spritzen, Infusionen) holten sich alle „Helfer“ alles privat ab, Kranke erhielten nichts.

-         Der örtliche Ministerpräsident meinte, in einer „Privataudienz“ alles Nötige sei geschehen, Indien bräuchte nie eine Hilfe von außen zumal von „früheren Kolonialherren“ und meinte, mein Leben sei durch Morddrohungen stark gefährdet.

-         Bei der sofortigen Abschiebung begleiteten mich zwei Geheimdienstoffiziere.

-         Da ich meinen Schnellteste-Koffer von Dräger nicht ihnen schenken wollte, verlangte man eine hohe Transportgebühr – im Gegensatz zum kostenlosen Transport bei der Einreise. Die gesamte medizinische Ausrüstung ließ ich ohnehin in Bhopal und sandte zwei meiner Doktoranden (Schöngut) für 3  Monate hin.

-         Der indische Geheimdienst drehte aus meiner Kamera in der zweiten Nacht den Diafilm heraus.

 

 Die Diskrepanzen hätten nicht krasser sein können:

-         Schnee in Deutschland

-         in Schlossgarten von Delhi zwitschernde Papageien

-         in Bhopal unendlich viele Leichen, junge Mütter mit Säuglingen in die Achsel gelegt, Verwesungsgeruch und tagelang Rauch von der Verbrennung der 40 000 Leichen

-         auf Station Dutzende mit blauen Gesichtern nach Luft ringend, 20 Angehörige uns Bett sitzend mit flehentlichem Blick zu den Deutschen, der Wunder vollbringen soll

-         Chefärzte, die unbedingt Tee mit mir trinken wollten, weil die 2000 vor der Tür ruhig warten sollten

-         Familienoberhäupter von 40 toten Angehörigen, die erzählten, man musste nur ein feuchtes Tuch vor Augen und Nase halten und sitzen bleiben, dann war in 30 Minuten alles vorbei. Seine Leute rannten zum Explosionsort und starben sofort.

-         Gesunde Ärzte und Pfleger holten sich 100er Packungen von Antidoten als „Souvenir“

-         Patienten, die im Kreis ihrer 20 Angehörigen ergeben auf ihren schicksalhaften Tod warteten

-         flehentliche hilflose Angehörige

-         Alle Ärzte aus dem Bundesland waren herbei geordert worden, niemand wusste wofür. Keiner kannte das Gift, geschweige denn, die nötige Hilfe.

-         Riesige Ausgabeplätze an denen jeder – oft mehrfach am Tag– Tabletten mit Antibiotika und/oder Cortison und Magenmittel erhielt – ohne Wiederholung, eine staatliche Placebotherapie.

-         jede Hilfe durch Ausländer wurde als verhasste „Kolonialherren“ abgelehnt

-         Erste wissenschaftliche Diskussionen mit Erstellung eines Diagnose- und Therapieplans, was aber dann allen Beteiligten stets verheimlicht wurde.

-         Der Eindruck eines Riesen-Experimentes mit Giftgasen entstand, weil alle Verantwortlichen alles Denkbare unternahmen, um den Opfern nicht zu helfen, um zu sehen, was ohne Hilfe mit ihnen in der Zukunft passiert.

-         Zuletzt im Garten des Botschafters ein Essen im Freien mit einem Riesen-Räucherlachs. Ein Adlerpärchen stürzt sich drauf und wird liebevoll von der Botschafterin wie immer weggescheucht.

-         Bei der Landung in Frankfurt warteten ca. 40 sensationshungrige Fernsehteams am Flugsteig. Ich ließ mir Zeit am Zoll für das Mitbringsel für Frau und Kinder. Dann waren sie weg. Später interessierte sich niemand mehr für das Unglück.

 

Bhopal – Augenzeugenbericht :

KATASTROPHENMEDIZIN Probleme des Massenanfalls Kranker und Verletzter. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1986:

 

Die Situation vor Ort

Durch einen Defekt an allen vier Sicherheitseinrichtungen eines 40-Tonnen-Tanks voll Methylisocyanat, einem technischen Produkt, und durch Vergessen der alternativen Handabschaltung kam es in Verbindung mit zurückgebliebenem Reinigungswasser zu einer exothermen Reaktion, zu einem Druckanstieg und dem Entweichen von 40 Tonnen Gas aus Methylisocyanat, Blausäure, Nitrosegasen und anderen Substanzen. Die exotherme Reaktion erzeugte eine Temperatur zwischen 400 und 600 °C. Von 23.00 Uhr bis 1.00 Uhr nachts legte sich der Gaspilz auf die Altstadt mit den Slums von Bhopal und zog dann 200 km weiter. Etwa in diesem Umkreis traten Todesfälle auf. Panikartig flüchtete die Bevölkerung während der höchsten Giftgaskonzentration mit ihren Habseligkeiten. Nur einzelne Firmenangehörige blieben mit einem feuchten Tuch vor Nase und Mund in ihren Hütten und überlebten mit der gesamten Familie. Es war eigenartig, dass nur Slumbewohner von der Vergiftung betroffen waren. Bewohner der übrigen Teile der Stadt, insbesondere die Hotelbewohner, hatten in dieser kalten Nacht Fenster und Türen verschlossen, blieben dann auch in ihren Wohnungen und erlitten keinerlei Vergiftungserscheinungen. Allerdings hatten auch die Ärzte der verschiedenen Krankenhäuser Vergiftungserscheinungen. Hunderte der Slumbewohner wurden im Schlaf überrascht und tot in ihren Lehmhütten aufgefunden. Etwa 300.000 Personen waren von der Vergiftung betroffen. Etwa jeder Hundertste starb sofort, ein Drittel der Bevölkerung wurde schwer vergiftet und muss mit lebenslangen Folgeschäden rechnen.

 

Um 2.00 Uhr nachts ertönte die Werksirene. Einige Männer liefen dann zum Epizentrum zurück und wurden dort vergiftet. Es gab keine Warnung und keine Alarmpläne. Die Werkarbeiter zogen, bis auf einen, rechtzeitig Gasmasken an und blieben verschont.

 

Kein einziger Patient in Bhopal, mit Ausnahme einiger leicht vergifteter Mediziner, wurde korrekt behandelt. Es wurde keine Versorgung am Unfallort bezüglich einer Vitaltherapie durchgeführt. Die Vergifteten mussten sich von Angehörigen oder von Taxis ins Krankenhaus bringen lassen. Privatärzte bekamen keine Informationen über Therapiemöglichkeiten. In den Kliniken erfolgte keine intensivmedizinische Behandlung. Es gab keine Intubation oder maschinelle Beatmung und keine funktionierenden Beatmungsbeutel in der gesamten Stadt. Nur jeder zwanzigste Patient mit Lungenödem bekam Sauerstoff zugeführt. Sterile Spritzen fehlten. 40.000 sterile Spritzen, die wir aus Bundeswehrbeständen mitgebracht hatten, verschwanden spurlos. Patienten im Prälungenödem warteten nach einem beschwerlichen Anmarsch stundenlang in der Sonne auf die erhoffte Hilfe im Krankenhaus. Dort gab es keine Selektion. Nur Tote wurden sofort selektiert.

 

Diagnostik

Es gab keine Messung des verursachenden Giftgases, obwohl in der Firma das Gasspürgerät routinemäßig angewandt wurde. Die exzellente, umfangreiche Monographie über Methylisocyanat, die von der Mutterfirma Union Carbide erstellt war, wurde nicht herausgegeben. Es gab keine Verlautbarung vom Verursacher, was passiert war und wie man den Betroffenen helfen könnte, dafür Verwirrungs- und Vertuschungsaktionen. Auch kam es zu Verwechslungen zwischen Zyanid und Zyanat. Der offizielle Vertreter der WHO hatte noch am 11. Tag nach der Katastrophe in einer großen Besprechung in Delhi die Meinung vertreten, dass das Gift keine tödliche Vergiftung und keine Verätzung hervorrufen könnte, sondern höchstens eine Allergie. Das hatte dann zur Folge, dass in den ersten Tagen lediglich ein Antihistaminikum ausgegeben wurde. Katastrophenpläne waren nicht vorhanden. Es erfolgte keine Ausbildung von Laienhelfern. Selbst Augentropfen durften nur von Ärzten verabreicht werden. Hinter einem Arzt warteten 5.000 Patienten darauf, einen Tropfen ins Auge zu bekommen, und bekamen höchstens jeden dritten Tag einen Tropfen.

 

Entgiftung

Bis zuletzt wurden keinerlei Entgiftungsmaßnahmen der Augen und der Haut durchgeführt. Die Patienten blieben bis zum Tod in ihren kontaminierten Kleidern. Patienten auf der Intensivstation behielten ihre Kleider an. Dadurch hatten sich natürlich auch das Pflegepersonal und die Leichenträger sekundär vergiftet. Weder der häusliche noch der berufliche Bereich wurden dekontaminiert. Giftfreie Nahrungsmittel wurden weder empfohlen, noch zur Verfügung gestellt. Eine Ausnahme bildeten die Ausländer. Das gleiche galt für das verseuchte Trinkwasser. Zur Entgiftung der fettlöslichen Substanz standen keine entsprechenden Mittel zur Verfügung.

 

Fürsorge

Die Bevölkerung wurde weder gewarnt, noch aufgefordert, sich zu schützen. Wir sahen an den einzelnen Firmenangehörigen, die sich lediglich durch eine feuchtes Tuch vor Nase und Mund und Schließen der Fenster und Türen optimal schützen konnten, wie einfach die Maßnahmen der ersten Stunden gewesen wären, wenn die Warnsirene zwei Stunden vorher ertönt wäre und die Bevölkerung einmal vorher erfahren hätte, wie man sich schützen kann. Es war früher bereits zu drei größeren Massenvergiftungen in Bhopal gekommen. Erst vor zwei Jahren war es durch ausströmendes Phosgen zu drei Todesfällen gekommen. Alarmpläne gab es nicht; man hatte Angst, dass die Bevölkerung dadurch nur beunruhigt würde. Die Vergifteten wurden nicht systematisch erfasst und keine Aufzeichnungen angelegt. Eine Dokumentation von Vorschäden wurde nicht durchgeführt. Die Vergifteten suchten dann auch mehrere Behandlungseinrichtungen hintereinander auf.

 

Alles, was irgendwie als Beweis für spätere Schadenersatzforderungen der Betroffenen hätte dienen können, wurde unterlassen oder verheimlicht. Den Vorschlag, einzelne Fälle von Spezialisten im Ausland behandeln zu lassen, lehnten die Verantwortlichen ab. Ein Großteil der ca. 3.000 zum Zeitpunkt des Unglücks im ersten Trimenon Schwangeren muss mit zerebralen Schäden bei den Kindern rechnen. Es wurde keine Interruptio empfohlen.

 

Antidote standen nicht zur Verfügung. Medikamente aus dem Ausland wurden strikt abgelehnt oder zurückgeschickt. Uns wurde empfohlen, die Medikamente von der Bundeswehr wieder mitzunehmen. Auch Dexametason-Spray als Antidot bei Lungenreizstoffvergiftungen hätte bei ca. 100.000 Personen die schweren, heute bestehenden Veränderungen im Sinne einer Lungenfibrose verhindern oder zumindest lindern können. Unsere mitgebrachten 1.050 Sprays, deren Anwendung dem Pflegepersonal von unserer Hindidolmetscherin demonstriert wurde, führten bei etwa 1.000 Personen zu einer drastischen Besserung des Zustandes. Nachgewiesene Lungenödeme besserten sich darunter überraschenderweise zum Teil erheblich. Patienten mit einem schaumigen Auswurf konnten nach einigen Stunden die Kliniken verlassen. Der Wunsch der örtlichen Ärzte nach 100.000 weiteren Packungen, die in Deutschland zum Transport bereitstanden, wurde von der Regierung ignoriert. Man fürchtete, dass dann alle behandelt werden wollten.

 

Ein Chemiker der indischen Regierung hatte überraschenderweise am 5. Tag in der Umgebung der Fabrik angeblich nicht nur Zyanate, sondern auch Zyanide nachgewiesen. Auch fand er beides im Leichenblut. Ein von uns entwickelter Schnelltest konnte dies bestätigen. Insbesondere tief bewusstlose Patienten mit Hirnödem hatten hohe Zyanidkonzentrationen im Blut. Versuche mit Injektionen von Natriumthiosulfat brachten hier überraschend gute Erfolge. Ausnahmslos alle Ärzte und das Pflegepersonal fühlte n sich selbst nach einer Minimaldosierung von einem Zehntel der empfohlenen Dosierung (10 ml der 10%igen Lösung) beschwerdefrei. Die Ärzte baten um weiter Antidote. 13.000 Infusionsflaschen, die ganz schnell in Deutschland zubereitet wurden und dorthin verbracht wurden, kamen jedoch nicht zur Anwendung. Lediglich Ärzte und Pfleger wurden damit behandelt.

 

Alle Patienten hatten neben anfänglichen Augenverätzungssymptomen eine Lungensymptomatik mit quälendem Husten, Bluthusten und fleckige Verschattungen im Röntgenbild sowie eine Azidose. Maßnahmen der indischen Regierung, wie sie anfangs empfohlen wurden, wie die Gabe des Antihistaminikum, eines Antigastritikums, antibiotikahaltige Augentropfen und die Gabe von Atropin als Universal-Antidot, waren wirkungslos. In der späteren Phase wurden tagelang orale Kortikoide ausgegeben. Anstelle des lokal anzuwendenden Dexamethason-Sprays bekamen die Patienten pro Tag etwa 18 Tabletten unbekannter Dosierung eines Dexamethasons sowie Betasympatikomimetika, Hustensaft, Vitamine und Spurenelemente. Ferner wurden höchste Dosen an Antibiotika ganz ungezielt eingesetzt. Diese Maßnahmen waren sinnlos oder sogar gefährlich.

 

Bhopal Verlauf (Tagebuch)

Auf Wunsch des deutschen Auswärtigen Amtes, sollte ich bei dem Giftgasunglück nach Bhopal reisen und die Anwendung der von Deutschland in riesigen Mengen bereitgestellten Gegengifte den indischen Ärzten erklären.


Am Abend des Alarmierungstages hatte ich noch einen Vortrag in der Universitätsklinik in Gießen. Alle hielten es für einen Gag, dass ich mit zahlreichen Alukoffern und Schutzausrüstung anreiste und meinte, dass ich in wenigen Stunden in Bhopal sei.

Vom Laborchef wurde mir noch hochkonzentrierte Säure für den Blausäurenachweis im Blut, die ich vergessen hatte, gebracht.

Der indische Botschafter fragte beim Abschiedsempfang in Frankfurt, ob man das dortige Trinkwasser trinken könne. Sein Krabbencocktail dabei war jedoch massiv voll Bakterien. Nach kurzer Zeit setzten bei mir im Flugzeug heftige Durchfälle ein, zuletzt musste ich mit schmerzhaften Leibkrämpfen blutiges Wasser entleeren. Ruhr? Erschöpft, wie vom Fieber geschüttelt, erinnerte ich mich an die Kohle  Demonstrationspackung im Handgepäck. Zittrig bereitete ich sie zu. Nach einer Viertelstunde war der Stuhl schwarz, dann kehrte plötzlich wie durch ein Wunder Ruhe ein, die Bakterien waren weg. Ich schlief einen tiefen Heilschlaf bis zur Ankunft. In Dehli betrog mich der Taxifahrer und verlangte das Zehnfache. In der deutschen Botschaft war ein denkbar liebenswürdiger Empfang. Auf meinen Wunsch erhielt ich zwei deutsche Frauen zugeteilt, die Sprache des indischen Landesteiles beherrschten, eine Lehrerin und eine medizinischtechnische Laborantin. Dadurch war ein einmaliger Kontakt zu den Kranken geschaffen. In Gesprächen mit Offiziellen konnte die Lehrerin Englisch dolmetschen und ich hatte Zeit zum Hören der anderen Meinungen. Die örtlichen Ärzte baten um meine eilige Ankunft. Gesundheitsminister und Amtsärzte  so wie Politiker führten stundenlange theoretische Gespräche bis in die Nacht. Der Flug Dehli  Bhopal wurde vom Geheimdienst vereitelt, offizielle Begründung, dass mein Platz belegt sei, war, dass eine japanische Fernsehgesellschaft eilig dorthin musste. Jetzt riss  mir der Geduldsfaden, ich sagte, ich fliege morgen mit der Lufthansa heim und verständige die Weltpresse, die ohnehin vom Abflug an jeden Schritt beobachtete. Ich bat den Botschafter um ein Auto zur Besichtigung der Altstadt von Dehli. Aufgrund meines energischen Auftretens gegenüber den Regierungsmitgliedern war er sehr besorgt. Er stellte mir seinen gepanzerten Mercedes mit Funk und Fahrer zur Verfügung. Meine Helferinnen zeigten mir alle Schönheiten der Hochblüte von Indien. Mitten im Dezember schwirrten hier Papageien, Adler und seltene Vögel zwischen Palmen und Blumen, während die Menschen in Bhopal weiter ohne die vor Ort vorhandene Hilfe starben. Die Regierung funkte laufend, wir sollten kommen, sie hätten umdisponiert. Ich führte mein Programm ungestört fort und lehnte ab. Drohungen negierte ich, ich war als Privatmann von keiner Weisung abhängig. Das war für alle Beteiligten wohl völlig neu und brachte enormen Respekt ein. Ich hörte, dass es zahlreiche Ärzteteams aus den USA, Frankreich und anderen Ländern ebenso erging, als einziger wurde ich dann zugelassen. Ob die Angst vor der Presse oder die für sie einmalige Frechheit den Ausschlag gab, weiß niemand. Nach meiner Stadtbesichtigung waren alle wie ausgewechselt und hilfreich. Die indischen Geheimdienstoffiziere ließen mich zwar Tag und Nacht nicht mehr aus den Augen, waren jedoch äußerst behilflich. Nach
Ankunft in Bhopal wurde ich vom Chef der Rechtsmedizin, Prof.Chandra, der mich angefordert hatte, in Empfang genommen. So wie er sagte, kam es mehrmals. Nach Betreten der Hauptarbeitsstätte, dem Medical Hospital, wurde ich ins dort vorhandene Zimmer der Unglücksfirma "Union Carbide" gebeten und von ihrem Chef gefragt, wie viel Geld ich wollte, wenn ich nichts  von ihnen sagte. Lächelnd ging ich hinaus, so verdutzt war er wohl noch nie im Leben. Schnell hatte ich meinen ersten Todfeind. Er sollte siegen. Der Chef der Augenklinik wollte mich zum Tee-Plausch einladen. Ca. 1000 Patienten, die geduldig in Schlange warteten krümmten sich vor Schmerzen. Etwa dreimal am Tag bekamen sie von ihm persönlich einen Tropfen ins Auge. Er meinte: "Ich bekomme nichts dafür, wenn ich sie jetzt behandle".

Der Chef der Kinderklinik machte mit mir Visite. Er begann mit einem Frühgeborenen, der nackt neben einer warmen, gefüllten Glasflasche unter einer Glashaube lag und angeblich schwer vergiftet sei. Ich hörte das Kind ab und sagte, es sei blau, da es einen schweren Herzfehler habe. Daraufhin lachten alle hämisch, sagten es sei richtig, es wäre ein Test gewesen. Meine Helferinnen waren wütend. Sie kannten die Ärztementalität nicht. Ich wusste, jetzt bin ich akzeptiert. Viele Sterbende im toxischen Lungenödem hätten Sauerstoff benötigt. Weder diesen noch Nasensonden dafür gab es. So verabreichten meine Helferinnen nur einen Cortisonspray (Dexamethason), dessen korrekte Anwendung den jeweiligen Angehörigen gelehrt wurde. Wir hatten nur die persönliche Ausrüstung von mir dabei: Ärztemuster und wegen Überschreitung des Verfalldatums weggeworfene Klinikpackungen.

Mit diesen 1.000 haben wir mindestens 10.000 Schwervergiftete behandelt. Die über 100.000 Packungen der Ersthilfe der deutschen

Bundesregierung ließ das indische Gesundheitsministerium über den Zoll nicht freigeben. Der indische Nationalstolz erlaubt keine

Annahme von ausländischer Hilfe  auch wenn diese nicht englisch ist, die sie niemals akzeptieren würden.

Nach den Visiten in den verschiedenen Abteilungen, der Klinik folgte eine eingehende Untersuchung der Gestorbenen. Hunderte

Tote lagen in den Kellerräumen der Rechtsmedizin und auf Bergen zum Verbrennen. Man hatte 30.000 Tote gezählt. Die offizielle Version vom ersten Tag war und blieb 1450 Tote. 30.000 gab man

als Gesamtzahl der Betroffenen an. Die örtlichen Ärzte schätzten

die Zahl aufgrund der Todesfälle im Randbereich der Giftwolke auf über 300.000. 750.000 Einwohner hatte die Stadt. Keiner blieb ganz verschont. Die abziehende Giftwolke schädigte noch in 200 km Entfernung, nur wusste man dort noch weniger als vor Ort. Dies berichtete uns eine deutsche Schaustellergruppe.

Achtlos hatte ein Arbeiter den noch nicht leeren Tank mit Methylisocyanat mit Wasser reinigen wollen, dabei kam es zur Hitzeentstehung und Giftgaswolken. Von den unzähligen dabei freiwerdenden Giften waren Methylisocyanat, Blausäure und Phosgen die giftigsten.

Sofort starben viele an Blausäure, leichter Vergiftete litten am

Kampfgas Phosgen. Jeder nicht sofort behandelte erkrankte an der Lunge  besonders die vielen Tuberkulose-Kranken.


Amerikanische Rechtsanwälte schwirrten aus, um Unterschriften Betroffener zu sammeln, für die sie Geld bekamen. Krankengeschichten, die Voraussetzung für eine Entschädigung, wurden auf Geheiß der Verursacherfirma Union Carbide keine angelegt.

Also war das einzig mögliche, vielen unbürokratisch zu helfen. Wir

errichteten Stützpunkte an den betroffenen Stadtvierteln, zeichneten in Stadtpläne die Hauptzugrichtung des Windes und bildeten Ersthelfer mit der Auxiloson-Spray-Anwendung aus. Je mehr Patienten geholfen wurde, desto abweisender wurde die indische Regierung.

Ständig setzten sie Strategiekonferenzen an, fragten: "warum wollen Sie helfen". Ein Chefarzt meinte, das ist so, wie wenn in München ein Pennerlager brennt. 2 Menschen verbrennen und die ganze Welt rät, wie man den 48 Brandopfern helfen kann. Die Erkrankung der Bevölkerung sei "Gott" gewollt. Sie meinten ihren Gott. In der Tat saßen um einen sterbenden 18jährigen sechzehn Familienangehörigen schweigend friedlich herum und sahen tatenlos zu, wie er an seiner Wasserlunge und seinem eigenen Schleim erstickte. Kein Vorwurf. Kein Ruf nach einer Schwester.

Dann wieder der Gang über die Keller. Tote Säuglinge im Arm ihrer toten Mütter. Ich dachte an meine vier kleinen Kinder zuhause.

Viele erinnerten mich daran. Abgehetzt, müde, durstig, immer wieder Tote, Tote, Tote oder Sterbende, die wir zuhause ganz anders betreuen würden. Die Verbitterung stieg ins Unermessliche. Der ständige Kontakt mit der deutschen Botschaft erbrachte eine immer geringer werdende Bereitschaft der Regierung zum Handeln. Alle Angebote lehnten sie ab: eine deutsche ABC Truppe zur Entgiftung aller Betroffenen (die Gifte hängten in den Kleidern, den Habseligkeiten), deutsche Medikamente, ausgebildetes Personal. Offiziell war alles beendigt, harmlos.

Die Giftgaswolke war über einen Stadtteil mit Zelten und Lehmhütten der Ärmsten, meist Arbeitern von Union Carbide als erstes gezogen. Der Effekt war auch positiv, denn viele der Betroffenen, die man als Schmarotzer empfand, zogen weg. Dies freute die Superreichen, deren Häuser mit goldenen Türgriffen und Wasserhähnen ausgerüstet waren. Die Gegensätze und Konflikte waren unfassbar.

Dann kam der Funkspruch vom Geheimdienstchef am vierten Tag: "Um mein Leben könne nun nicht mehr garantiert werden. Ich müsse sofort abreisen". Ein Gespräch mit dem örtlichen Ministerpräsidenten half nichts. Der Rechtsmediziner bat um die restlichen Gegengifte - sie blieben die Einzigen vor Ort. Der Geheimdienst bettelte erfolglos um das umfangreiche Diagnoseset. Es wurde ein schriftliches Protokoll angefertigt, was alles benötigt wäre - es blieb beim Papier. Zwischen Geheimdienstchef und neugieriger Ehefrau des Ministerpräsidenten erfolgte das Ausfliegen aus Bhopal, nachdem ich die Linienmaschine bei laufenden Motoren 1 Std. auf dem Rollfeld warten ließ, da ich einen Koffer "vergessen" hatte, zu holen. Ich wollte wissen, ob das eine Abschiebehaft war.


In Dehli gab es wieder die üblichen Regierungsgespräche, Reden vom WHO  Vertreter, dass man nicht mehr unternehmen könne und viel Eigenlob. Auch habe man den Lungenreizstoffspezialisten aus München geholt, der bestätigt habe, dass alles vorbildlich war.

Der sprachlose deutsche Botschaftsrat saß daneben, mein beißender Kommentar half nichts mehr.

Dann folgte der nächste Kontrast: das Abschiedsessen beim Botschafterehepaar. Mitte Dezember bei heißer Sonne hemdsärmelig an einem großen Tisch tief im grünen, blumenmeerartigen Garten.

Mit der Hand dicke Scheiben eines roten Seelachses abschneidend stürzt ein Riesen-Adlerpaar vom Dach und schnappt sich das Stück.

"Sch, sch", ruft Frau Botschafterin, "meine Vorgängerin hat sie immer gefüttert, jetzt sind sie es gewöhnt".

Auf dem Heimflug nach Frankfurt neben zwei ständig fragenden Geheimdienstoffizieren, entstand der felsenfeste Entschluss, alles zu unternehmen, dass sich weltweit eine solche Katastrophe nicht mehr wiederholt, die Unwissenheit und Vertuschungslust, beseitigt wird.

In Frankfurt wartete  ich eine Stunde vor dem Passagierauslaß, um den Fernsehteams erfolgreich zu entgehen. Meine Kommentare wären zu beißend gewesen, das will der Deutsche abends vor dem Fernseher vor seinem Bier und seiner Zigarette nicht hören. Mit seinem Geld geschehen nur tolle, erfolgreiche Dinge.

Bei der Schlussbesprechung in Bonn im Auswärtigen Amt stieß ich auf Beamte, für die dieses tägliches Brot war: "Herr Daunderer, wirkliche Hilfe ist nur mit Privatleuten vor Ort möglich, nicht mit spektakulären Regierungsaktionen."

Viel Positives blieb: die deutsche Firma Thomae änderte den schwer

bedienbaren Kopf des Dexamethason Sprays, brachte ein Notfall-Päckchen auf den Markt, die indischen Ärzte studierten den Unterschied  zwischen Cyanid und Cyanat, deren ähnliche Aussprache die entscheidenden Missverständnisse brachte (ei und i).

(Auszug aus meiner neuen Biografie)