58.Bhopal – Augenzeugenbericht :
Erinnerungen nach 20 Jahren
M. Daunderer
16.1
Die Situation vor Ort
Durch einen Defekt
an allen vier Sicherheitseinrichtungen eines 40-Tonnen-Tanks voll Methylisocyanat,
einem technischen Produkt, und durch Vergessen der alternativen Handabschaltung
kam es in Verbindung mit zurückgebliebenem Reinigungswasser zu einer exothermen
Reaktion, zu einem Druckanstieg und dem Entweichen von 40 Tonnen Gas aus Methylisocyanat,
Blausäure, Nitrosegasen und anderen Substanzen. Die exotherme Reaktion erzeugte
eine Temperatur zwischen 400 und 600 °C. Von 23.00 Uhr bis 1.00 Uhr nachts
legte sich der Gaspilz auf die Altstadt mit den Slums von Bhopal und zog dann
200 km weiter. Etwa in diesem Umkreis traten Todesfälle auf. Panikartig
flüchtete die Bevölkerung während der höchsten Giftgaskonzentration mit ihren
Habseligkeiten. Nur einzelne Firmenangehörige blieben mit einem feuchten Tuch
vor Nase und Mund in ihren Hütten und überlebten mit der gesamten Familie. Es
war eigenartig, dass nur Slumbewohner von der Vergiftung betroffen waren.
Bewohner der übrigen Teile der Stadt, insbesondere die Hotelbewohner, hatten in
dieser kalten Nacht Fenster und Türen verschlossen, blieben dann auch in ihren
Wohnungen und erlitten keinerlei Vergiftungserscheinungen. Allerdings hatten
auch die Ärzte der verschiedenen Krankenhäuser Vergiftungserscheinungen.
Hunderte der Slumbewohner wurden im Schlaf überrascht und tot in ihren
Lehmhütten aufgefunden. Etwa 300.000 Personen waren von der Vergiftung
betroffen. Etwa jeder Hundertste starb sofort, ein Drittel der Bevölkerung
wurde schwer vergiftet und muß mit lebenslangen Folgeschäden rechnen.
Um 2.00 Uhr nachts
ertönte die Werksirene. Einige Männer liefen dann zum Epizentrum zurück und
wurden dort vergiftet. Es gab keine Warnung und keine Alarmpläne. Die
Werkarbeiter zogen, bis auf einen, rechtzeitig Gasmasken an und blieben
verschont.
Kein einziger
Patient in Bhopal, mit Ausnahme einiger leicht vergifteter Mediziner, wurde
korrekt behandelt. Es wurde keine Versorgung am Unfallort bezüglich einer
Vitaltherapie durchgeführt. Die Vergifteten mussten sich von Angehörigen oder
von Taxis ins Krankenhaus bringen lassen. Privatärzte bekamen keine Informationen
über Therapiemöglichkeiten. In den Kliniken erfolgte keine intensivmedizinische
Behandlung. Es gab keine Intubation oder maschinelle Beatmung und keine
funktionierenden Beatmungsbeutel in der gesamten Stadt. Nur jeder zwanzigste
Patient mit Lungenödem bekam Sauerstoff zugeführt. Sterile Spritzen fehlten.
40.000 sterile spritzen, die wir aus Bundeswehrbeständen mitgebracht hatten,
verschwanden spurlos. Patienten im Prälungenödem warteten nach einem
beschwerlichen Anmarsch stundenlang in der Sonne auf die erhoffte Hilfe im
Krankenhaus. Dort gab es keine Selektion. Nur Tote wurden sofort selektiert.
16.2
Diagnostik
Es gab keine
Messung des verursachenden Giftgases, obwohl in der Firma das Gasspürgerät
routinemäßig angewandt wurde. Die exzellente, umfangreiche Monographie über
Methylisocyanat, die von der Mutterfirma Union Carbide erstellt war, wurde
nicht herausgegeben. Es gab keine Verlautbarung vom Verursacher, was passiert
war und wie man den Betroffenen helfen könnte, dafür Verwirrungs- und
Vertuschungsaktionen. Auch kam es zu Verwechslungen zwischen Cyanid und Cyanal.
Der offizielle Vertreter der WHO hatte noch am 11. Tag nach der Katastrophe in
einer großen Besprechung in Dehli die Meinung vertreten, dass das Gift keine
tödliche Vergiftung und keine Verätzung hervorrufen könnte, sondern höchstens
eine Allergie. Das hatte dann zur Folge, dass in den ersten Tagen lediglich ein
Antihistaminikum ausgegeben wurde. Katastrophenpläne waren nicht vorhanden. Es
erfolgte keine Ausbildung von Laienhelfern. Selbst Augentropfen durften nur von
Ärzten verabreicht werden. Hinter einem Arzt warteten 5.000 Patienten darauf,
einen Tropfen ins Auge zu bekommen, und bekamen höchstens jeden dritten Tag
einen Tropfen.
16.3
Entgiftung
Bis zuletzt wurden
keinerlei Entgiftungsmaßnahmen der Augen und der Haut durchgeführt. Die
Patienten blieben bis zum Tod in ihren kontaminierten Kleidern. Patienten auf
der Intensivstation behielten ihre Kleider an. Dadurch hatten sich natürlich
auch das Pflegepersonal und die Leichenträger sekundär vergiftet. Weder der
häusliche noch der berufliche Bereich wurden dekontaminiert. Giftfreie
Nahrungsmittel wurden weder empfohlen, noch zur Verfügung gestellt. Eine
Ausnahme bildeten die Ausländer. Das gleiche galt für das verseuchte
Trinkwasser. Zur Entgiftung der fettlöslichen Substanz standen keine
entsprechenden Mittel zur Verfügung.
16.4
Fürsorge
Die Bevölkerung
wurde weder gewarnt, noch aufgefordert, sich zu schützen. Wir sahen an den einzelnen
Firmenangehörigen, die sich lediglich durch eine feuchtes Tuch vor Nase und
Mund und Schließen der Fenster und Türen optimal schützen konnten, wie einfach
die Maßnahmen der ersten Stunden gewesen wären, wenn die Warnsirene zwei
Stunden vorher ertönt wäre und die Bevölkerung einmal vorher erfahren hätte,
wie man sich schützen kann. Es war früher bereits zu drei größeren
Massenvergiftungen in Bhopal gekommen. Erst vor zwei Jahren war es durch
ausströmendes Phosgen zu drei Todesfällen gekommen. Alarmpläne gab es nicht;
man hatte Angst, dass die Bevölkerung dadurch nur beunruhigt würde. Die
Vergifteten wurden nicht systematisch erfasst und keine Aufzeichnungen
angelegt. Eine Dokumentation von Vorschäden wurde nicht durchgeführt. Die
Vergifteten suchten dann auch mehrere Behandlungseinrichtungen hintereinander
auf.
Alles, was
irgendwie als Beweis für spätere Schadenersatzforderungen der Betroffenen hätte
dienen können, wurde unterlassen oder verheimlicht. Den Vorschlag, einzelne
Fälle von Spezialisten im Ausland behandeln zu lassen, lehnten die
Verantwortlichen ab. Ein Großteil der ca. 3.000 zum Zeitpunkt des Unglücks im
ersten Trimenon Schwangeren muß mit zerebralen Schäden bei den Kindern rechnen.
Es wurde keine Interruptio empfohlen.
Antidote standen
nicht zur Verfügung. Medikamente aus dem Ausland wurden strikt abgelehnt oder
zurückgeschickt. Uns wurde empfohlen, die Medikamente von der Bundeswehr wieder
mitzunehmen. Auch Auxiloson-Spray als Antidot bei Lungenreizstoffvergiftungen
hätte bei ca. 100.000 Personen die schweren, heute bestehenden Veränderungen im
Sinne einer Lungenfibrose verhindern oder zumindest lindern können. Unsere
mitgebrachten 1.050 Sprays, deren Anwendung dem Pflegepersonal von unserer
Hindidolmetscherin demonstriert wurde, führten bei etwa 1.000 Personen zu einer
drastischen Besserung des Zustandes. Nachgewiesene Lungenödeme besserten sich
darunter überraschenderweise zum Teil erheblich. Patienten mit einem schaumigen
Auswurf konnten nach einigen Stunden die Kliniken verlassen. Der Wunsch der
örtlichen Ärzte nach 100.000 weiteren Packungen, die in Deutschland zum
Transport bereitstanden, wurde von der Regierung ignoriert. Man fürchtete, dass
dann alle behandelt werden wollten.
Ein Chemiker der
indischen Regierung hatte überraschenderweise am 5. Tag in der Umgebung der
Fabrik angeblich nicht nur Cyanate, sondern auch Cyanide nachgewiesen. Auch
fand er beides im Leichenblut. Ein von uns entwickelter Schnelltest konnte dies
bestätigen. Insbesondere tief bewusstlose Patienten mit Hirnödem hatten hohe
Cyanidkonzentrationen im Blut. Versuche mit Injektionen von Natriumthiosulfat
brachten hier überraschend gute Erfolge. Ausnahmslos alle Ärzte und das
Pflegepersonal fühlte n sich selbst nach einer Minimaldosierung von einem
Zehntel der empfohlenen Dosierung (10 ml der 10%igen Lösung) beschwerdefrei.
Die Ärzte baten um weiter Antidote. 13.000 Infusionsflaschen, die ganz schnell
in Deutschland zubereitet wurden und dorthin verbracht wurden, kamen jedoch
nicht zur Anwendung. Lediglich Ärzte und Pfleger wurden damit behandelt.
Alle Patienten
hatten neben anfänglichen Augenverätzungssymptomen eine Lungensymptomatik mit
quälendem Husten, Bluthusten und fleckige Verschattungen im Röntgenbild sowie
eine Azidose. Maßnahmen der indischen Regierung, wie sie anfangs empfohlen
wurden, wie die Gabe des Antihistaminikums, eines Antigastritikums,
antibiotikahaltige Augentropfen und die Gabe von Atropin als Universal-Antidot,
waren wirkungslos. In der späteren Phase wurden tagelang orale Kortikoide
ausgegeben. Anstelle des lokal anzuwendenden Dexamethason-Sprays bekamen die
Patienten pro Tag etwa 18 Tabletten unbekannter Dosierung eines Dexamethasons
sowie Betasympatikomimetika, Hustensaft, Vitamine und Spurenelemente. Ferner
wurden höchste Dosen an Antibiotika ganz ungezielt eingesetzt. Diese Maßnahmen
waren sinnlos oder sogar gefährlich.
KATASTROPHENMEDIZIN
Probleme des
Massenanfalls Kranker und Verletzter
Herausgegeben
von E. Ungeheuer
Sonderdruck
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1986