Dieser
Artikel beschreibt über 8 Seiten den Fall eines Mannes, der sich 1984 ohne
Schutz die Amalgamfüllungen entfernen ließ, um danach Palladium zu bekommen.
Immer stärker werdende Gesundheitsprobleme führen ihn zu einer Vielzahl von
Ärzten die ihn nicht helfen konnten und dann 1994 zum Toxikologen Dr.
Daunderer.
(aus:
Antje Bultmann (Hrsg.)
Vergiftet und alleingelassen
Die Opfer von Giftstoffen in den Mühlen von Wissenschaft
und Justiz
© 1996 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.,
München)
Martin Hofmann
»Von Monat zu Monat habe ich körperlich mehr
abgebaut«
Die Wahl fiel auf den römischen Götterboten Merkur. Sein
ruheloser Charakter glich den Eigenschaften des Metalls. Nicht festzuhalten,
ständig auf der Flucht, beschrieben die Alchimisten das silbern schimmernde
Material. Allgemein bekannte Merkmale des Quecksilbers (früher Merkurius) -
und doch hat die Wissenschaft sie ausgeblendet, beiseite geschoben. Das
Amalgam war gefunden: ein fast ideales Mittel, um Löcher in den Zähnen der
Menschen zu stopfen - preiswert, einfach zu verarbeiten, rasch aushärtend.
Daß die halbe Portion Quecksilber im Gemisch mit den anderen Metallen
(Silber, Zinn, Kupfer, Zink) vollständig eingebunden sei und bleibe, davon
sind heute noch die meisten Zahnärzte felsenfest überzeugt. Ein
verhängnisvoller Trugschluß? Zumindest für Reinhard Neubauer. Ihn hat der
zahnmedizinische Botenstoff nicht nur erreicht, aus der Bahn geworfen,
sondern hält ihn gnadenlos im Würgegriff. Ein besonderer, ein Einzelfall?
Zuvorkommend ist das Schicksal mit dem 44jährigen nicht umgesprungen. Das hat
die Vergiftung seines Organismus jedoch nicht ausgelöst, allenfalls erheblich
beschleunigt. Andere Amalgamträger - pro Jahr legen die Zahnärzte in
Deutschland 38 bis 40 Millionen solcher Plomben - werden gewiß längere Zeit
von massiven Wirkungen des Quecksilbers verschont.
Vielen bleiben sie dennoch nicht erspart. »Unfug. Der
Mann simuliert, eine schlicht eingebildete Krankheit. Den Menschen wird
wieder etwas eingeredet, bis sie selber daran glauben. Dabei fehlt ihnen
körperlich, organisch überhaupt nichts!« Der Ingenieur kennt auch diese Töne
aus meist berufenem Medizinermunde. Doch der Reihe nach.
Vor zwölf Jahren, 1984, gelang Reinhard Neubauer die
Ausreise aus der DDR. Rasch fand der junge Mann einen Arbeitsplatz in seinem
erlernten Beruf als Kraftwerkstechniker. Die Papierwerke
Waldhof-Aschaffenburg (PWA) hatten ihm bei Rosenheim (Oberbayern) ein
passendes Angebot unterbreitet.
Noch im selben Jahr erklärte ihm sein Zahnarzt bei einem
Routinebesuch, seine maroden Füllungen müßten dringend erneuert werden. Ob
dies notwendig war, konnte der Patient nicht beurteilen. Die Unterlagen über
seine bisherige Behandlung waren in der DDR geblieben. Ohne lange zu zögern,
setzte der Arzt den Bohrer an und entfernte alle zehn Amalgamplomben, um sie
durch neue zu ersetzen. »Einen Haufen Geld hat er damals jedenfalls an mir verdient«,
sagt Neubauer im Rückblick.
Unmittelbar ausgewirkt hat sich der zahnmedizinische
Kraftakt nicht. Erst ein halbes Jahr später spürt der leichtathletisch
trainierte 33jährige - den 100-Meter-Sprint legt er in 10,87 Sekunden zurück
- erstmals deutlich seine Kräfte schwinden. Bei einem Laufwettkampf gehorchen
ihm die Beine nicht, bleiern hängen sie an den Gelenken. »Obwohl ich
ausgeschlafen war und am Vortag keinen Alkohol genossen hatte, fühlte ich
mich wie nach einer durchzechten Nacht«, erinnert er sich an die Anfänge
seiner Krankengeschichte. Größere gesundheitliche Bedeutung mißt er dem
Ereignis jedoch damals nicht bei. Die Gründe für seinen läuferischen Einbruch
sucht er bei sich, trainiert härter als zuvor. Um die Weihnachtszeit 1984
stellen sich anhaltende Bauchschmerzen ein. Der Blinddarm wird entfernt. Die
Operation beseitigt aber nicht die Ursachen des Unwohlseins. Im Gegenteil:
»Von Monat zu Monat habe ich körperlich mehr abgebaut«, sagt der Ingenieur.
Um die Ursachen dafür zu ergründen, nimmt er seine Lebenssituation unter die
Lupe. Hat er die Umstellung von Ost nach West noch nicht verkraftet? Ernährt
er sich falsch? Überfordert ihn sein neuer Arbeitsplatz?
Reinhard Neubauer nimmt den Kampf mit seinem Körper auf.
Er treibt mehr Sport, testet diverse Diäten, gibt sich am Arbeitsplatz noch
mehr Mühe, alles fehlerfrei zu erledigen, um nicht nervös zu werden. Im
Urlaub fährt er fast regelmäßig zur Kur, denn seine Selbsttherapie liefert
nicht die gewünschten Erfolge. Nach den Aufenthalten samt Anwendungen - er
finanziert sie meist selbst - fühlt er sich jeweils besser. Natürlich verläßt
er sich nicht ausschließlich auf das eigene Gespür, hört nicht nur in sich
hinein. Mehrfach nehmen sich Fachärzte für innere Krankheiten seiner
Magen-Darm-Beschwerden an. Organisch entdecken sie jedoch keinen Defekt.
Schon 1986/87 hört er von einem Internisten: »Dann werden es wohl die Nerven
sein.«
Ein Jahr später - die Fahrt ins Tal der Leiden setzt
sich unaufhaltsam fort - entscheidet sich das kinderlose Ehepaar dafür, die
Lebensumstände ganz neu zu organisieren. Um Ordnung und Ruhe in ihr
Privatleben zu bringen, hört Frau Neubauer auf zu arbeiten. Sie kümmert sich
nur noch um den Haushalt und ihren Mann. Doch beim Sport kehrt die Kraft in
die Beine nicht zurück. Jetzt wird die Ernährung auf Vollwertkost umgestellt.
Das Ehepaar rückt sein Bett an einen anderen Platz. Die Schlafsituation soll
verbessert werden. Neubauer beginnt mit autogenem Training. Daß ihm die
sogenannten Schulmediziner helfen könnten, bezweifelt er mittlerweile. Anfang
1991 setzen die Bauchschmerzen wieder massiv ein, der Stuhlgang funktioniert
nur noch unregelmäßig. Eine vierwöchige Kur in Scheidegg (Allgäu) sorgt für
Linderung. Dort weist erstmals ein Arzt Neubauer auf seine Amalgamfüllungen
hin. Nach Hause zurückgekehrt, fühlt er sich topfit, wechselt die Stellung.
Die silbergrauen Plomben läßt er sich entfernen.
Doch als Kassenpatient verpaßt ihm der Zahnmediziner
Füllungen aus einer Palladium-Kupfer-Legierung. Bun-desarbeitsminister Norbert
Blüm hat sie im Zuge seiner Gesundheitsreform eingeführt, um den Kassen die
Aufwendungen für kostspieliges Material zu ersparen. Zuschüsse für
Zahnersatz, Brücken, Kronen aus hochwertigen Goldlegierungen wurden
gestrichen. Wer auf solcher Qualität bestand, mußte nicht nur die Mehrkosten
tragen, sondern die Behandlung komplett selbst bezahlen. Der zuständige
Bundesausschuß »Zahnärzte und Krankenkassen« einigte sich 1986 auf sogenannte
Palladium-Basis-Legierungen als Regelversorgung für die Beitragszahler (rund
90 Prozent der Bevölkerung). Auf ihre gesundheitliche Verträglichkeit sind
diese Metallgemische aber zuvor niemals untersucht worden. Die Experten
verließen sich auf wenige Tests in Zell- und Gewebekulturen wie auf einzelne
Erfahrungen mit den Stoffen. Schlicht ausgedrückt: Die Kassenpatienten mußten
als Versuchsobjekte herhalten.
Die Folgen dieser unverzeihlichen Nachlässigkeit lassen
sich heute noch nicht abschätzen. Das »Spargold« erlebte jedenfalls einen
Boom. Erst im November 1992 knöpft sich das Bundesgesundheitsamt die
Materialien vor. Die zuständige Zahnmedizinerin Dr. Tamara Zinke bestätigt,
daß bei der Entscheidung für den größten Teil der mehr als 100 diversen
Palladium-Legierungen »weder biologische Prüfungen noch klinische Erfahrungen«
vorlagen. Palladium gehört zur Gruppe der Platinmetalle. Gelangt es in den
menschlichen Organismus, hemmt es zahlreiche Enzymsysteme in Niere und Leber,
etwa die Aldo-lase, die giftige Substanzen (Aldehyde) abbaut. Außerdem, so
führt auch Frau Zinke aus, greift es den Träger der genetischen Information,
die Desoxyribonukleinsäure (DNS) von zwei Seiten an. Es schaltet nach
Eindringen in die Zellen auch die Energieproduktion ab. Palladiumsalze führen
überdies zu Herzrhythmusstörungen. Nach Tierexperimenten setzen kupferhaltige
Palladium-Legierungen auch dem Dünn- und Dickdarm zu, beeinträchtigen Stuhl-
und Urinausscheidung. Im Tierversuch war Palladium obendrein krebserregend.
Als derzeit einzige wesentliche Aufnahmequelle dieses Stoffes kommt für den
Menschen nur Zahnersatz aller Art in Frage. Die Schlußfolgerung der
Gesundheitsbehörde: »Keine Verwendung palladium-kupferhaltiger
Dentallegierungen ohne Nachweis der Bioverträglichkeit.« Allerdings verwendet
das Amt den Konjunktiv: Die Zahnärzte sollten die Empfehlung berücksichtigen,
heißt es vorsichtig. Gut ein Jahr später, am I.Januar 1994, wird das Gemisch
dann doch aus dem Verkehr gezogen.
Für Reinhard Neubauer — und gewiß nicht nur für ihn —
kommt diese zögerliche Vorsichtsmaßnahme viel zu spät. Die Schulung seiner
Verdauung durch eine Mayer-Kur im Allgäu stabilisiert sein Immunsystem nur
vorübergehend. Im Sommer 1991 stellen sich die Magen-Darm-Beschwerden wieder
ein, bald gepaart mit Kopfschmerzen, Nervosität, Konzentrations- und
Leistungsschwäche, Schlafstörungen. »Was sollen wir denn nun noch machen?«
klagt seine Frau hilflos. »Bist du wahnsinnig! Kasteist dich immer mehr«,
hält sie ihrem Mann vor. Seinen ersten gesundheitlichen Tiefpunkt durchlebt
der Ingenieur im Dezember 1991. Er schleppt sich von einem Tag zum nächsten.
Wieder entdecken die konsultierten Ärzte keine organischen Schäden; keine
Diagnose - keine Therapie. Ein vierwöchiger Aufenthalt am Toten Meer mit
seiner mineralstoffreichen Luft (30 Prozent 02) bringt Linderung. Sie reicht
für ein halbes Jahr. »Dann hab ich wieder ausgesehen wie der Tod auf
Latschen«, beschreibt der inzwischen im Ulmer Kraftwerk der Energieversorgung
Schwaben arbeitende Techniker seinen damaligen Zustand. Eine heftige Grippe
packt ihn. Massiv befallen Pilze seinen Magen-Darm-Trakt. Die Zahl der
Erreger liegt etwa um fünf Potenzen über den üblichen Werten. Intensiv wird
er im Sommer 1993 internistisch durchgecheckt. »Die Ursache der
Darmbeschwerden und der Gewichtsabnahme ist unklar«, schreibt Dr. Henning
Nissen nach erfolgten Untersuchungen samt Gewebeentnahme. Letztere ergibt nur
eine »leichte chronisch-unspezifische Entzündung der Dünndarmschleimhaut«.
Der Einsatz von Medikamenten gegen den Pilzbefall bringt keine Besserung.
Auch nach einer Kontrolle der Laborwerte im November 1993 tappt der Ulmer
Internist im dunkeln: »Nach wie vor ist die Beschwerdesymptomatik und die
Gewichtsabnahme unklar«, teilt er dem Hausarzt mit. Ein HIV-Test fällt
negativ aus. Sein Vorschlag: Den Patienten wegen der atypischen Infektion bei
den Tropenmedizinern vorzustellen. Anhaltspunkt: ein Türkeiaufenthalt.
Neubauers Zustand verschlechtert sich zusehends. Anfang 1994 brechen alle
Lebensfunktionen zusammen: Er kann weder essen noch trinken noch schlafen.
Was in ihm vorgeht? Er versteht es selbst nicht mehr. Soll er eine noch
diszipliniertere Lebensweise wählen? Wie sollte, wie könnte sie aussehen? Daß
die Schulmedizin bei ihm mit ihrem Latein am Ende war, dazu bedurfte es
keines weiteren Beweises. Per Zufall entdeckt Neubauer in der Hausarztpraxis
die Anschrift der »Spezialklinik für Naturheilverfahren« Höhenkirchen. »Wenn,
dann gehe ich nur noch dahin«, schießt es ihm durch den Kopf. Stationär
aufgenommen verbringt er dort zehn Wochen. Immerhin diagnostizieren die
Mediziner nach Laboruntersuchungen einen »dringenden Verdacht auf chronische
Amalgamintoxikation« - die Blutbildänderungen sprechen dafür - sowie starken
Pilzbefall im Darm. Dieser wird auf eine Salmonelleninfektion von 1989
zurückgeführt. Die Tragweite seiner Vergiftung wird aber auch dort nur
unzulänglich erkannt. Die Ärzte raten Neubauer jedoch, die begonnene
Quecksilberausleitung aus seinem Körper fortzusetzen. Sein Zustand verbessert
sich dennoch nicht gleich. Zu den bisherigen Symptomen wie
Konzentrationsschwäche, Bauchschmerzen, Schlaflosigkeit, Kopfweh,
Appetitlosigkeit gesellt sich bald ein pelziges Gefühl von der linken
Kopfseite über die linken Finger bis hinab zur linken Fußspitze.
Da er seit Beginn des Klinikaufenthaltes als
arbeitsunfähig eingestuft wird, greifen die Schulmediziner wieder in das
Geschehen ein. Der Betriebsarzt nimmt Neubauer seine Schwermetallbelastungen
durch Quecksilber, Kupfer und Palladium nicht ab. Auch die Arbeitskollegen
bezweifeln, daß jemand durch Zahnfüllungen so schwer erkranken und seine Beschäftigung
nicht wieder aufnehmen kann. Sie begegnen ihm mit Unverständnis und
Mißtrauen.
Der klinische Toxikologe Dr. Max Daunderer führt
Neubauer im August 1994 in seiner Münchner Praxis dagegen vor, wie stark sein
bereits seit drei Jahren amalgamfreies Gebiß mit Quecksilber belastet ist.
Gleich einer Perlenschnur reihen sich die Metallablagerungen auf dem
Röntgenpanoramabild aneinander. Der Giftexperte habe belächelt, was bis dahin
an Neubauer therapeutisch versucht wurde. In seiner ironisch-sarkastischen
Art erklärt er dem Patienten, er könne mit einschneidenden Maßnahmen noch
zuwarten. Letztlich werde er sich aber doch dafür entscheiden, was er ihm
vorschlage. Er müsse seinen Kiefer öffnen lassen, um an die Giftdepots
heranzukommen. Die gesamte Knochenpartie müsse gereinigt werden.
Diesen Rat erwähnt sogar das Gutachten des Medizinischen
Dienstes der Krankenkassen (Ulm), obwohl Daunderer als Außenseiter gilt. Die
begutachtende Ärztin Dr. Becker will die geplanten Eingriffe sogar abwarten
und verlängert im September die Bescheinigung zur Arbeitsunfähigkeit. Den
Zustand des Patienten schildert sie: »Der Versicherte wirkt schwunglos. Der
Gang ist müde und etwas schleppend. Er scheint auf die Amalgamvergiftung
fixiert zu sein.« Diagnostisch schließt die Medizinerin eine chronische
Amalgamvergiftung aus. Sie hegt hingegen den »Verdacht auf reaktive
Depression«. Zu deutsch: Der Mann sei schwer niedergeschlagen, psychisch
krank. In der abschließenden Beurteilung scheinen ihr dann doch Zweifel zu
kommen. Oder läßt sie sich nur ein Hintertürchen offen? Jedenfalls ist dort
plötzlich von einem »insgesamt« bestehenden Verdacht auf chronische
Amalgamintoxikation die Rede.
Ende Oktober 1994 spult die Deutsche Klinik für
Diagnostik in Wiesbaden ihr Programm ab. Im Auftrag der Krankenkasse werden
erneut Blut, Stuhl, Urin untersucht, der Darm sonographiert, ein Neurologe
und ein Psychiater schalten sich ein. Ergebnis: Speichel und Urin enthalten
nicht mehr Quecksilber als bei Menschen ohne Amalgamplomben. Der Magen-Darm-Spezialist
erkennt auf unbestimmte Bauchbeschwerden bei »depressiv-neurotischem
Patienten«. Der Neurologe macht gar »hypochondrische« (eingebildete)
Mechanismen bei dem Ingenieur aus, da er die Taubheitsgefühle auf der linken
Seite durch Reaktionstests nicht bestätigt findet. Der Psychiater sieht eine
»depressive Entwicklung seit 1988«. Professor Peter Lorbacher faßt zusammen:
»Für eine Amalgamintoxikation besteht aufgrund der vorliegenden Befunde kein
ausreichender Anlaß.« Im Vordergrund stehe bei Herrn N. »ein
psychosomatisches Krankheitsbild bei depressiver Entwicklung«. Als Therapie
wird die vierwöchige Gabe eines Antidepressivums (Aurorix) vorgeschlagen, das
den Antriebsmangel des Kranken beheben soll - unter psychiatrischer
Kontrolle; alternativ dazu eine Psychotherapie.
Reinhard Neubauer ist von dem Resultat nicht überrascht.
»Der Mann ist nicht ganz hier oben«, hätten ihm die Gutachter bescheinigt.
»Ach, da kommt einer mit Amalgamvergiftung«, begrüßten sie ihn bereits
vor-urteilsbeladen. Statt dem Vorschlag der Wiesbadener zu folgen, begibt
sich der seiner fünf Sinne völlig mächtige Mann für sechs Wochen in die
Spezialklinik für allergische und degenerative Erkrankungen Neukirchen im
niederbayerischen Rotz. Dort fällt die Diagnose gegenteilig aus. Festgestellt
werden: Quecksilber- und Palladiumbelastung, stark gestörte Bakterienflora im
Darm samt Pilzbefall. Schwermetallausleitungen wie eine wiederholte
Stuhluntersuchung bestätigten diese Erkenntnisse. Selbst Fäulniserreger
tummeln sich zuhauf in seinen Exkrementen. Die ersten Urinproben zeigen
Quecksilberanteile von 100 Mikrogramm pro Liter. Als Richtwert gelten fünf
Mikrogramm (Millionstel Gramm). Wird das eingelagerte Metall mit dem
Komplexbildner Dimaval (Dimercaptopropen-1-Sulfonsäure/DPS) mobilisiert -es
wird aus den belasteten Organen vor allem über die Niere ausgeschieden -,
klettern die Werte in stattliche Höhen: Kupfer liegt um das 70fache über dem
Richtwert (1308 Mikrogramm/Liter), Quecksilber um das GOfache (298
Mikrogramm) darüber; Zinn übertrifft den Grenzwert noch um 100 Prozent. In
Amalgamfüllungen ist dieses Metall nur zu 16 Prozent enthalten. Es stellt
aber ein etwa hundertmal wirksameres Nervengift dar als Quecksilber. Fazit
der Neukirchner Arzte: »Die nachgewiesene Palladium- und Quecksilberbelastung
spielt mit großer Wahrscheinlichkeit die Rolle eines übergeordneten
Störfaktors für das Regulationssystem des Patienten.« Sie könne für die
Entstehung und Unterhaltung des Krankheitsbildes mitverantwortlich sein.
Neurologisch und internistisch stellen die Ärzte nichts Auffälliges fest.
Neubauer - mittlerweile profunder Kenner der wissenschaftlichen Literatur zu
diesem Thema - formuliert nicht so vorsichtig. Mit diesen Laborwerten kann er
zweifelsfrei belegen, daß seine inneren Organe mit Quecksilber, Kupfer, Zinn,
Palladium vergiftet sind. Selbst die Urinprobe der inzwischen achten
Schwermetallausleitung zeigt dies eindeutig: Noch immer übertreffen die Werte
die Richtgrößen bei weitem. Bei Quecksilber verdoppeln sie sich nach der
DMPS-Gabe regelmäßig. Aus anderen Quellen als den Zähnen kann diese
Metallmenge gar nicht stammen. Die tägliche Aufnahme über Nahrungsmittel
beträgt ein bis 30 Mikrogramm, aus Amalgamfüllungen drei bis 27 Mikrogramm.
Aber mit diesem Beweis gibt sich der Techniker nicht
zufrieden. Auf eigene Kosten läßt er einen gezogenen Zahn untersuchen, in dem
keine Plombe saß. Statt der Norm von 200 Mikrogramm pro Kilogramm Material
enthält er 26100 Mikrogramm/Kilogramm Quecksilber. Dies dokumentiert, daß das
giftige Metall sowohl über den Speichel wie die Pulpa (das Zahnmark) in den
Organismus gelangt. Auch eine Haaranalyse zeigt einen erhöhten
Quecksilberwert an, der laut Deutschem Mineralanalytischem Laboratorium
(Bruckmühl/Oberbayern) verringert werden sollte.
Die Mehrzahl der Zahnmediziner, vor allem ihre
Funktionäre sowie die amalgamproduzierende Industrie bestreiten diese
Tatsachen nach wie vor entschieden. Toxikologen wie Max Daunderer werden seit
gut einem Jahrzehnt als den Menschen Angst einflößende Scharlatane diffamiert.
Dabei ist Neubauer kein Einzelfall. Der Münchner Giftwissenschaftler hat
schon vor fünf Jahren rund tausend Quecksilbervergiftungen dargestellt. Die
Palette der Krankheiten und Symptome ist vielfältig: Sie reicht von
chronischer Nasennebenhöhlenentzündung über Migräne bis zu
Gedächtnisstörungen, Allergieanfälligkeit, Neurodermitis oder multiple
Sklerose. Panikmache, Übertreibung? In seiner Strafanzeige gegen die Firma
Degussa als damaliger deutscher Hauptproduzent von Zahnamalgam — eingereicht
am 20. Dezember 1990 - schreibt Daunderer, daß nur »zwei Prozent der von uns
untersuchten Amalgamträger keine erhöhten Schwermetallwerte zeigten und
keinerlei Beschwerden angaben«. Der Anzeige haben sich inzwischen 700
Geschädigte angeschlossen.
Professor Volker Zahn (Straubing) geht davon aus, daß
rund 20 Prozent ihre Plomben beschwerdefrei tragen. Müssen demnach 80 bis 98
Prozent der Amalgam-Verplombten mit gesundheitlichen Schäden rechnen? Gewiß,
wie bei anderen Giften reagieren die Menschen auch auf diese unterschiedlich.
Da spielt die Zahl der Füllungen, wie lange sie getragen werden, ob jemand
ständig kaut, aber auch berufliche Umstände, etwa elektromagnetische Felder
eine Rolle. Empfindlichere Personen werden von den Metalleinlagerungen früher
gebeutelt. Ihr Immunsystem kann die Schädigung schlechter abwehren und wird
geschwächt. Reinhard Neubauers Immunabwehr gelingt zunächst die Bekämpfung
des Pilzbefalls im Darmbereich nicht mehr.
Mediziner und Gesundheitsbehörden hätten gewarnt sein
können, bevor sie das Massenexperiment mit dem giftigen Metall in den Mündern
von Millionen Menschen antraten. Der Berliner Chemiker Professor Dr. Stock
schrieb bereits 1926: »Die Zahnmedizin sollte die Verwendung von Amalgam als
Zahnfüllung völlig vermeiden oder es zumindest nicht verwenden, wenn es eine
andere Möglichkeit gibt. Es herrscht kein Zweifel darüber, daß viele
Symptome, darunter Ermüdung, Depression, Reizbarkeit, Schwindelgefühl,
Gedächtnisschwäche, Mundentzündung, Diarrhö (Durchfall), Appetitlosigkeit und
chronische Katarrhe oft durch Quecksilber hervorgerufen werden, dem der
Körper durch Amalgamfüllungen ausgesetzt ist, in kleinen, aber
kontinuierlichen Mengen. Arzte sollten dieser Tatsache ihre ernsthafte
Aufmerksamkeit schenken. Es wird dann wahrscheinlich festgestellt werden, daß
das gedankenlose Einführen von Amalgam als Füllstoff für Zähne ein schweres
Vergehen an der Menschheit gewesen ist.« Eineinsamer Warner? Beileibe nicht.
Louis Löwin erklärt in seinem Lehrbuch der Toxikologie Gifte und Vergiftungen
aus dem Jahre 1928: »Aus Amalgamplomben kann sich das Metall in die Mundhöhle
hinein verflüchtigen bzw. von irgendeiner Umwandlungsform von der Zahnhöhle
aus in die Saftbahnen aufgenommen werden und eine chronische Vergiftung
erzeugen, die sich abgesehen von örtlichen Veränderungen im Munde durch die
verschiedensten Organstörungen, besonders durch Ausfallsymptome von normalen
Gehirn- und Nierenfunktionen darstellt.« Schon damals wandten sich Menschen
»wegen dunkler, nervöser Krankheitssymptome« an Löwin. »Ich ließ stets solche
Plomben entfernen und erzielte dadurch Heilungen«, berichtet er.
Treffender läßt sich das Problem kaum in Worte fassen.
Doch die Ratschläge werden ignoriert. Amalgam wird in der Bundesrepublik als
Arzneimittel zugelassen. Auch die Kritik, die diese Entscheidung begleitete,
wirdjahrzehnte-lang beiseite geschoben. Konventionelles Amalgam — bestehend
aus 50 Prozent Quecksilber und 50 Prozent Pulver mit mindestens 65 Prozent
Silber, höchstens 29 Prozent Zinn und maximal sechs Prozent Kupfer - wird
erst seit 1993 nicht mehr verwendet. Mit sogenanntem gamma-2-freiem Pulver
(zur Hälfte Quecksilber, der Rest mit mindestens 40 Prozent Silber, maximal
32 Prozent Zinn, höchstens 30 Prozent Kupfer und drei Prozent Quecksilber)
dürfen Zahnlöcher auch danach gefüllt werden. Noch im Frühjahr 1990 stellt
die Beratungskommission Toxikologie der Deutschen Gesellschaft für
Pharmakologie und Toxikologie dem zahnärztlichen Wirkstoff das Zertifikat
unbedenklich aus: Es bestehe keine Notwendigkeit, daß auf Amalgame verzichtet
wird. Das Bundesgesundheitsamt erklärt zwei Jahre später: »Nach derzeitigem
wissenschaftlichem Erkenntnisstand gibt es keinen begründeten Verdacht für
ein gesundheitliches Risiko durch Amalgamfüllungen.« Vorbeugend empfiehlt die
Berliner Behörde jedoch: bei Patienten mit schweren Nierenfunktionsstörungen
keine neuen Füllungen zu legen; sorgfältiges Abwägen, ob Amalgameinsatz bei
Kleinkindern in den ersten drei Lebensjahren notwendig sei; keine
umfangreiche Amalgamtherapie während der Schwangerschaft - gegen einzelne
Füllungen sei nichts einzuwenden. (Diese Vorschrift gilt bereits seit Oktober
1987.) Die geänderte Gebrauchsinformation beschränkt das Verwenden von
Amalgam - »für Füllungen in Zähnen« war es bis dahin zugelassen - »auf
kautragende Flächen im Seitenzahn-bereich, wenn andere Füllungswerkstoffe
nicht indiziert sind und andere Restaurationstechniken nicht in Frage
kommen«. Zu deutlicheren Einschränkungen, gar einem Verbot, kann sich das Amt
nicht durchringen, obwohl die zuständige Beamtin Dr. Tamara Zinke im
Bundesgesundheitsblatt (12/92) die Bedenken gegen den Füllstoff ausführlich
darlegt. Daß die Quecksilberkonzentration im Urin von der Zahl der
vorhandenen Amalgamplomben abhängt, wird nicht mehr bestritten. Fischreiche
Nahrung spiele bei diesen Belastungen eine geringfügige Rolle, heißt es. Das
aus dieser Quelle stammende giftigere Methylquecksilber wird vorwiegend über
den Stuhl ausgeschieden. Seit zwei Jahren sei auch wissenschaftlich belegt,
daß das aus Füllungen abgegebene Schwermetall in Organen gespeichert wird.
Aus der 1992 veröffentlichten Studie des Rechtsmediziners und Toxikologen
Gustav Drasch folgert Frau Zinke, daß »bei Personen mit einer höheren Zahl an
Amalgamfüllungen im Mittel der größte Teil der Quecksilberbelastung der
Organe aus diesen Füllungen stammt«. An 168 Leichen weist der Münchner
Professor Drasch nach, daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen
Quecksilberkonzentrationen in ihren Organen und den Füllungen in ihrem Mund
besteht. Sie liegen bei Personen mit mehr als zehn silbern schimmernden
Zähnen im Durchschnitt in der Nierenrinde um das Elffache, in der Leber um
das Vierfache und im Gehirn um das Zweifache höher als bei der Kontrollgruppe
mit null bis zwei Plomben. Ähnliche Ergebnisse konnte bereits vier Jahre
zuvor Professor Roland Schiele präsentieren. Der Erlanger Arbeitsmediziner
zog jedoch andere Schlüsse, sprach von Einzelfällen. Zur Freude der
Hersteller hielt er das Risiko eines Einsatzes der Metallegierungen für
absolut vertretbar. Die Industrie wird es ihm gedankt haben; die Behörde
pflichtete Schiele bei.
Aus der Drasch-Studie folgert das Bundesgesundheitsamt
hingegen, »daß die Zahl der im Munde des Patienten befindlichen
Amalgamfüllungen und damit die hiervon abhängige Quecksilberbelastung reduziert
werden muß«. Da die Krankenkassen jedoch nur Plomben aus dem Billigmetall
voll finanzieren, verwenden es die Zahnärzte fast uneingeschränkt weiter. Daß
der Einsatz alternativer Füllstoffe im Gespräch mit den Patienten geklärt
werden muß, wie Dr. Zinke verlangt, bleibt in der Praxis wohl die Ausnahme.
Vom Ersetzen des Werkstoffs rät sie ab, »wenn dies nicht im Einzelfall, etwa
bei allergischen Reaktionen, geboten ist«.
Dennoch zeitigen die wissenschaftlichen Studien Folgen.
Ende 1993 steigt der Metall- und Chemiekonzern Degussa, Marktführer bei
Amalgamfüllungen, aus der Produktion in Deutschland aus. In Österreich,
Spanien, Frankreich wird allerdings weiter produziert. Die Firma befürchtet,
doch zur Rechenschaft gezogen zu werden.Kurze Zeit später sorgt eine neue
Untersuchung Draschs für Aufsehen. Im Gehirn und den Nieren von Embryonen -
die Schwangerschaften wurden aus medizinischen Gründen abgebrochen - und
toten Säuglingen findet er erhöhte Quecksilber werte, wenn die Mütter mehr
als neun Amalgamplomben tragen. Bei Kindern von Müttern mit weniger als drei
Füllungen nehmen die Konzentrationen im ersten Lebensjahr nicht mehr zu.
Weist ihr Gebiß mehr als drei mit dem Arzneimittel bearbeitete Zähne auf,
steigt sie auf das Zehnfache der vorgeburtlichen Konzentration der
Kinderniere an. Der Rechtsmediziner schließt aus diesen Untersuchungen:
»Zahnamalgam ist für den Menschen die Quecksilberquelle Nummer eins.« Wann
die Belastung zu Gesundheitsschäden führe, wisse niemand genau. Weder für
Erwachsene noch für Embryonen gebe es klare Grenzkonzentrationen. Daß die
Geschädigten alle psychisch krank seien, »alle spinnen«, hält der Mediziner
für absurd.
Gut ein Jahr benötigte das Bundesinstitut für
Arzneimittel - eine der Nachfolgeeinrichtungen des aufgelösten Bundesgesundheitsamts-,
um auf die neuen Messungen zu reagieren. Dabei zitiert es immer wieder
Studien, die schon verjähren (etwa 1988) aufzeigten, daß Amalgamträger eine
enorme Menge Quecksilberdampf im Mund verkraften müssen. Bei allen Amalgam
träger n liegt er um den Faktor 100 über dem Quecksilbergehalt der Luft von
Industriegebieten. Auch im Speichel übertrifft der Quecksilberanteil den
Trinkwassergrenzwert der Weltgesundheitsorganisation (WHO) um ein Mehrfaches.
Und das dauernd und über viele Jahre hinweg. Ende März 1995 ergeht endlich
ein Bescheid an die Amalgamhersteller, der im Grunde das Aus dieses
Werkstoffs bedeutet. In der Gebrauchsinformation heißt der neue Passus: »Aus
Gründen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes sollte die Zahl der Amalgamfüllungen
für den einzelnen Patienten so gering wie möglich sein, da jede
Amalgamfüllung zur Quecksilberbelastung des Menschen beiträgt.«
Im Auftrag der sechs bis sieben deutschen Produzenten
legt der Bundesfachverband der Arzneimittelhersteller Widerspruch dagegen
ein. Dr. Ehrhard Anhalt begründet ihn: »Für die Unverträglichkeit von Amalgam
gibt es nicht die Spur eines Hinweises. Die meisten Wissenschaftler sind
unserer Meinung.« Ende Juli weist das Arzneimittel-Institut die Eingabe ab.
Die Begründungen der Firmen seien nicht stichhaltig. Jetzt hoffen die
Hersteller auf eine Richtlinie der Europäischen Union, die Zahnfüllstoffe zu
Medizinalprodukten erklärt. Dann könne die Berliner Behörde gegen ihre
Produkte nicht mehr vorgehen.
Wenig später lenken die gesetzlichen Krankenkassen ein.
Sie zahlen künftig auch für Kunststoffüllungen, obwohl diese weniger haltbar
sind und mehr Geld kosten. Unumstritten sind diese Materialien zwar nicht,
aber um ein Vielfaches weniger giftig. Die Funktionäre der Zahnärzte haben sich
gegen diesen Beschluß übrigens lange gesträubt.
Und Reinhard Neubauer? Ihm geht es mittlerweile etwas
besser. Ende Februar 1995 hat er sich den Kiefer öffnen lassen. Seine
Krankenkasse erwägt, ob sie die Plombenproduzenten nicht auf Schadenersatz
verklagen soll. Die Zahlung von Krankengeld an ihr Mitglied hat sie Mitte
Juni eingestellt. Seine Kollegen im Betrieb verstehen seine Situation.
Stundenweise kann er dort wieder arbeiten, seinen Beruf aber noch nicht
wieder voll ausüben. Nach der Kasse muß er dazu die
BundesVersicherungsanstalt für Angestellte von seinem Leiden überzeugen.
Neubauer weiß inzwischen auch, warum es ihn so hart getroffen hat. Das
unsachgemäße Entfernen des Quecksilbers hat seinen Organismus etwa so stark
mit dem Gift belastet, wie wenn er die Plomben noch zwanzig Jahre getragen
hätte. Wie lange sein Körper noch braucht, um den Großteil der Schwermetalle
loszuwerden, bleibt abzuwarten. Den Kampf gegen das Gift gibt er nicht auf.
Rechenschaft verlangt er hingegen von jenen, die meist wider besseres Wissen
den Einsatz der Substanzen befürwortet und gefördert haben - der kleinen,
aber zahlungskräftigen Herstellerlobby zuliebe. Und noch immer legen
Zahnärzte Amalgamfüllungen, ohne ihre Patienten überhaupt zu befragen. Der
Skandal steht erst an seinem Anfang.
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