Alkoholentwöhnung medikamentös

 

Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Medizin ihre Lehrmeinung zu Sucht und Entzug Alkoholkranker überdenken muss: Dutzende neuer Medikamente befinden sich derzeit im klinischen und vorklinischen Teststadium, bei denen viele gänzlich neue Wege gehen. Interessante Ansätze bietet beispielsweise die äußerst starke Stressreaktion im Gehirn, die sowohl Mensch als auch Tier bei Alkoholsucht entwickeln – sie ähnelt dem Ausstoß von Adrenalin und anderen Stoffen, die beim Menschen in Gefahrsituation vorkommen.

 

Allerdings kommen die Anti-Alkoholismus-Präparate derzeit noch kaum bei Patienten an, wie Mark Willenbring, Direktor der Abteilung für

Behandlungs- und Entzugsforschung am US-Nationalinstitut gegen Alkoholmissbrauch und Alkoholismus meint. Ein Medikament gegen die Rückfallneigung namens Naltrexon, das bereits in den Neunzigerjahren in den USA zugelassen wurde, werde beispielsweise nur in vier Prozent der Fälle von Alkoholabhängigkeit verschrieben.

 

Willenbring schlägt daher ein neues Behandlungssystem für die USA vor, bei dem die Patienten in der Praxis ihres Hausarztes behandelt werden. Dieses Modell soll vor allem diejenigen Menschen anlocken, die keine langen Gesprächstherapien oder stationäre Hilfe benötigen oder wollen. Im Gespräch mit Technology Review äußert sich Willenbring über solche neuen Ansätze gegen die Alkoholsucht.

 

Technology Review: Herr Willenbring, was ist aktuell das größte Problem bei der Behandlung von Alkoholabhängigkeit?

 

Mark Willenbring: Die Hauptschwierigkeit ist, dass sich so wenige Betroffene überhaupt behandeln lassen, Auf das Lebensalter gerechnet sind es wahrscheinlich weniger als zehn Prozent.

 

TR: Wie kommt es zu dieser niedrigen Zahl?

 

Willenbring: Die meisten Betroffenen sagen, dass sie keine Behandlung bräuchten oder dass sie es alleine schaffen. Einer der Gründe dafür ist das Verhältnis zwischen dem aktuell verfügbaren Therapiesystem und der von den Patienten wahrgenommenen Notwendigkeit einer Behandlung. Wenn die einzige Behandlung gegen Depression wäre, sich bei einer schweren Depression im Krankenhaus einer Elektrokrampftherapie zu unterziehen, wäre das sicher eine große Hemmschwelle. Den meisten von uns müsste es dann wohl erst einmal extrem schlecht gehen, um sich behandeln zu lassen. Doch wenn die Behandlung bedeutet, sich von seinem Hausarzt etwas verschreiben zu lassen, ist die Schwelle zur Therapie wesentlich geringer. Bevor es Medikamente und andere harmlosere Therapieformen gab, ließen sich dementsprechend wenige Leute mit Depressionen behandeln, weil die Behandlungsformen so drakonisch waren.

 

Das aktuelle Behandlungssystem für Alkoholabhänge in den USA ist vom normalen Gesundheitssystem, also den Ärzten, Psychologen und Psychiatern, abgekoppelt. Es wurde 1975 entwickelt, als es eigentlich nur Gruppentherapie und die Anonymen Alkoholiker gab. Dementsprechend denken die Leute heute, dass eine Behandlung gegen Trunksucht bedeutet, sich in die Betty-Ford-Klinik einweisen zu lassen.

 

Unser heutiges System hat dabei drei Hauptprobleme: Erstens wollen es die meisten Menschen nicht nutzen, sie werden in es hineingezwungen. Zweitens werden Alkoholiker, die im normalen Gesundheitssystem stecken, oft gar nicht entdeckt oder behandelt. Drittens baut das System vor allem auf Gesprächstherapie auf, in der es keine Mediziner gibt. Es gibt also niemanden, mit dem man über Medikamente gegen die Sucht reden könnte – viele Therapeuten glauben außerdem nicht einmal daran, dass sie funktionieren.

 

In der Konsequenz bedeutet das alles, dass neue Behandlungsformen zwar entwickelt werden, aber dann nicht zum Einsatz kommen. Versuchen Sie mal, einen Arzt zu finden, der weiß, wie man Naltrexon für Alkoholabhängige verschreibt. Die gibts kaum.

 

TR: Gibt es Beweise dafür, dass der medizinische Ansatz tatsächlich funktioniert?

 

Willenbring: Eine große Studie, bei der zwei verschiedene Medikamente sowie die Psychotherapie untersucht wurden, ist im Mai im "Journal of the American Medical Association" veröffentlicht worden. Ein Teil der Patienten bekam eines der Medikamente (Naltrexon oder einen anderen Wirkstoff namens Acamprosat) sowie medizinische Unterstützung – eine einstündige Einführungssitzung mit einer Krankenschwester und neun weitere, kurze Sessions, um über ihre Fortschritte zu reden. Andere Patienten erhielten das Medikament und Gesprächstherapie. Die Studie fand heraus, dass Naltrexon in Verbindung mit medizinischer Unterstützung das beste Ergebnis hatte, sogar besser als Gesprächstherapie durch einen Spezialisten. Andere Studien legen Ähnliches nahe. Nicht jeder muss also durch eine Psychotherapie hindurch. Naltrexon mit medizinischer Unterstützung kann genauso effektiv sein.

 

Viele Leute wollen auch gar nicht mit einem Psychotherapeuten reden oder einen Seelenstrip vor einer Gruppe vollführen. Sie wollen einen Doktor oder eine Schwester, die ihnen bei ihrer Krankheit hilft. Eine aktuelle Studie auf dem Gebiet der Depression fand heraus, dass kognitive Verhaltenstherapie genauso wirksam wie der Einsatz von Medikamenten ist, wenn es um milde und mittlere Depressionsfälle geht. Sie hat auch den Vorteil, dass es zu keinen Nebenwirkungen kommt. Das führte dann dazu, dass das Angebot an Verhaltenstherapie deutlich zunahm. Allerdings wollte die kaum jemand haben. Fast alle setzten lieber auf Medikation. Das sagt schon sehr viel darüber aus, was die Patienten möchten – und was ihnen im Gegenteil dazu angeboten wird. Ich glaube, dass das auch für die Behandlung von Alkoholismus gilt.

 

TR: Viele Menschen halten die Therapie für einen integralen Bestandteil einer Suchtbehandlung – damit sie verstehen, was die Sucht auslöst und Mechanismen entwickeln, wie sie damit umgehen können. Glauben Sie nicht, dass eine allein auf den Arzt zugeschnittene Behandlung für Alkoholmissbrauch irgendwann schief geht?

 

Willenbring: Aktuell haben diejenigen, die sich in Behandlung begeben, meistens sehr schwere Probleme, was bedeutet, dass sie wahrscheinlich auch eine intensive Therapie benötigen. Doch der durchschnittliche Alkoholiker, den es weniger stört, wird gar nicht erst behandelt. Viele Menschen mit Alkoholabhängigkeit arbeiten und haben Familie. Sie funktionieren im Leben ziemlich gut. Und genau diese Gruppe ist es, für die der medizinische Ansatz interessant wäre, wie ich glaube. Die Medikamente, die wir haben, sind kein Allheilmittel, aber sie reduzieren die Chance eines Rückfalls deutlich.

 

TR: Wie werden sich die Behandlungsformen im nächsten Jahrzehnt ändern?

 

Willenbring: Innerhalb der nächsten zehn Jahre erwarte ich einen Paradigmenwechsel in der Art der Behandlungsformen, die angeboten werden und auch, wie sie angeboten werden. Es wird viel leichter zugängliche und akzeptablere Optionen für die Patienten geben. Sobald die als negativ empfundenen Aspekte einer Behandlung, wie etwa Entzugserscheinungen, abnehmen, werden auch mehr Menschen Hilfe suchen.

 

TR: Welche neuen Wirkstoffe befinden sich in der Entwicklung?

 

Willenbring: Eines der Medikamente, die derzeit in klinischen Untersuchungen stecken, ist Topiramat, ein krampflösendes Mittel, dass heute gegen Epilepsie eingesetzt wird. Es wirkt auf das

Gamma-Aminobuttersäure- und Glutaminsäure-System, zwei Neurotransmitter, die auch mit Belohnungsmechanismen und Entzug bei Alkoholabhängigkeit zu tun haben.

 

Andere Wirkstoffe, die sich in der Entwicklung befinden, gehen vor allem das Stressreaktionssystem im Gehirn an. Dabei geht es um das für die Corticotropin-Ausschüttung verantwortliche Molekül. Wirkstoffe, die es angehen, könnten die übertriebene Stressreaktion im Gehirn von Alkoholabhängigen dämpfen.

 

Endocannabinoide, die die gleichen Rezeptoren wie Marihuana betreffen, sind ebenfalls ein interessanter Wirkstoffbereich, der mit dem Belohnungssystem im Gehirn zu tun hat. Antagonisten wie Rimonobant, das in Europa kürzlich als Medikament gegen Fettsucht zugelassen wurde, zeigen zudem interessante Ansätze im Tiermodell.

 

TR: Wie will Ihr Institut dabei helfen, die neuen medizinischen Behandlungsformen zu den Patienten zu bringen?

 

Willenbring: Wir haben erst einmal einen Ratgeber für US-Ärzte entwickelt. Beim alten Modell würde der Doktor seinen Patienten auf Alkoholabhängigkeit untersuchen und ihn dann an ein spezialisiertes Behandlungszentrum weiterreichen. Das kann sehr erfolgreich sein, wenn die Leute bereit sind, dort auch hinzugehen. Allerdings tun das nur wenige. Deshalb wollen wir Hausärzte und Psychiater anregen, Patienten in ihrer Praxis zu behandeln.

 

  http://www.heise.de/tr/artikel/80514